Herr Präsident,
Gemäß Artikel 83 der Hausordnung der Abgeordnetenkammer bitte ich Sie folgende parlamentarische Anfrage an die Familienministerin weiterzuleiten.
Am 5. November 2019 erklärte das deutsche Bundesverfassungsgericht Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II als teilweise verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht wurde mit der Thematik befasst, nachdem ein Empfänger von Arbeitslosengeld II aufgrund einer Minderung um 30% und schließlich um 60% des ihm zustehenden Regelbetrages beim Sozialgericht Klage einreichte und dieses dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur konkreten Normenkontrolle weiterreichte.
In seinem Urteil[1] erklärt das Bundesverfassungsgericht, dass Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten nicht prinzipiell verfassungswidrig seien, doch wird von den Richtern argumentiert, dass eine Minderung des Regelbetrages um 60% nach der zweiten Nichtwahrnehmung einer Mitwirkungspflicht und ein kompletter Wegfall des Regelbetrages über einen Zeitraum von 3 Monaten im Falle einer dritten Verletzung einer Mitwirkungspflicht, nicht mit dem deutschen Grundrecht vereinbar seien. Das Bundesverfassungsgericht begründet diese Unvereinbarkeit mit der Unzumutbarkeit und der Unverhältnismäßigkeit der genannten Sanktionen.
Die potenziell entstehende Belastung für EmpfängerInnen durch eine Minderung um 60% bzw. durch einen kompletten Leistungsentzug sei demnach, so das Verfassungsgericht, nicht mit dem grundrechtlich gewährleisteten Existenzminimum vereinbar.
Zudem weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass es keine belastbaren Erkenntnisse über die Eignung und Erforderlichkeit einer Leistungsminderung um 60% bzw. eines kompletten Leistungsentzuges im Hinblick auf die Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt gäbe. Diesbezüglich könnten, so die Verfassungsrichter, drastische Minderungen der Leistungen ggf. bewirken, dass die EmpfängerInnen durch die Leistungsminderungen mit zusätzlichen Hürden bei der Integration in den Arbeitsmarkt konfrontiert würden.
Des Weiteren müsse der Gesetzgeber darauf achten, so die Verfassungsrichter, dass EmpfängerInnen auch nach mehrmaligem Verstoß gegen Mitwirkungspflichten und komplettem oder teilweisem Entzug der Leistungen, die Chance behalten, diese wieder zu erhalten, sobald die EmpfängerInnen ihren Mitwirkungspflichten wieder nachkommen. Es könne also nicht sein, dass ein oder eine EmpfängerIn – wie in Deutschland der Fall – über einen Zeitraum von 3 Monaten einen kompletten Leistungsentzug hinnehmen müsse, obwohl er oder sie zwischenzeitlich wieder seinen oder ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen ist. Da dies derzeit in Deutschland beim Arbeitslosengeld II der Fall sei, so das Gericht, würden die Sanktionen ihr eigentliches Ziel verfehlen, nämlich die Mitwirkung der EmpfängerInnen an Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt zu fördern.
Die luxemburgische Gesetzgebung zum Revenu d’Inclusion Sociale (REVIS) hat einige Ähnlichkeiten mit dem deutschen Arbeitslosengeld II, insbesondere was die Mitwirkungspflichten und die Sanktionen bei deren Missachtung angeht.
So sieht das entsprechende Gesetz vor, dass REVIS-EmpfängerInnen nach einem ersten Verstoß gegen ihre Mitwirkungspflichten vom Office National d’Inclusion Sociale (ONIS) abgemahnt werden. Beim zweiten Verstoß folgt eine Minderung des REVIS-Betrages um 25% und ein dritter Verstoß zieht einen kompletten REVIS-Entzug nach sich. Letztgenannte Sanktionen gelten für die drei der Entscheidung des Fonds National de Solidarité (FNS) folgenden Monate. Somit können REVIS-EmpfängerInnen über einen Zeitraum von bis zu 4 Monaten von den Sanktionen betroffen sein.
Inwiefern REVIS-EmpfängerInnen, die nach zwei oder mehreren Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten von Sanktionen betroffen sind, den kompletten ihnen zustehenden REVIS-Betrag wieder erhalten oder zurückerstattet bekommen können, insofern sie sich vor Ablauf der dreimonatigen Sanktionsfrist wieder an den Mitwirkungspflichten beteiligt haben, geht aus dem Gesetz nicht hervor.
REVIS-EmpfängerInnen können vom Fonds National de Solidarité (FNS) gegen sie verhängte Sanktionen Einspruch beim Sozialgericht (conseil arbitral des assurances sociales) einlegen. Dafür haben sie laut Gesetz 40 Tage Zeit ab dem Datum der schriftlichen Mitteilung der Sanktion. Zu diesem Zweck müssen dem betroffenen REVIS-Empfänger die nötigen Informationen zu den Ansprüchen auf Rechtsmittel zugestellt werden.
Vor diesem Hintergrund möchte ich der Familienministerin folgende Fragen stellen:
- Wie viele Haushalte erhalten derzeit REVIS? Wie hat sich diese Zahl über das vergangene Jahr entwickelt?
- Wie viele Beschäftigte erhielten 2019 die komplementären Leistungen der allocation d’inclusion?
- Wie hoch lag der Anteil der abgelehnten REVIS-Anträge?
- In wie vielen Fällen sprach das ONIS Abmahnungen gegen REVIS-EmpfängerInnen aus?
- In wie vielen Fällen entschied der FNS eine Minderung des REVIS-Betrages in Höhe von 25%? Wie hat sich diese Zahl absolut und in Relation zu der gesamten REVIS-Empfängerzahl seit Einführung des REVIS entwickelt?
- In wie vielen Fällen entschied der FNS einen kompletten Entzug des REVIS? Wie hat sich diese Zahl absolut und in Relation zu der gesamten REVIS-Empfängerzahl seit Einführung des REVIS entwickelt?
- In wie vielen Fällen legten REVIS-EmpfängerInnen Einspruch gegen eine Sanktion beim Sozialgericht ein? In wie vielen Fällen ist ein Einspruch aus Sicht der EmpfängerInnen erfolgreich gewesen?
Laut REVIS-Gesetz werden mit REVIS-EmpfängerInnen sogenannte plans d’activation ausgearbeitet. Die EmpfängerInnen müssen den Mitwirkungspflichten nachkommen, die in diesen Plänen festgelegt werden. Tun sie das nicht, besteht die Möglichkeit einer Sanktion, also ggf. einer Kürzung oder eines Entzugs des REVIS.
8. Aufgrund welcher der fünf im Gesetz festgeschriebenen möglichen Verstöße gegen die Auflagen des plan d‘activation werden die REVISEmpfängerInnen in welcher Häufigkeit sanktioniert?
9. Wie definiert ihr Ministerium das schwere Fehlverhalten (motif grave), das zu einem Abbruch der Betreuung der betroffenen Person durch das ONIS und einen kompletten Leistungsentzug führen kann?
10. Welche Kriterien werden im Rahmen der plans d’activation herangezogen, um zu bestimmen ob ein oder eine REVIS-EmpfängerIn eine bestimmte gemeinnützige Arbeit verrichten kann oder soll? Wird bei dieser Entscheidung auch beruflichen oder geographischen (Entfernung zum Wohnort und/oder Transportmöglichkeiten) Rechnung getragen?
11. Wird einem oder einer REVIS-EmpfängerIn, der oder die aufgrund eines Verstoßes gegen eine Mitwirkungspflicht eine Minderung oder einen Entzug des REVIS-Betrages über einen Zeitraum von drei Monaten hinnehmen muss, die Leistung wieder komplett ausgezahlt, wenn sich der oder die EmpfängerIn innerhalb dieser drei Monate wieder seinen oder ihren Mitwirkungspflichten nachkommt oder bleibt die Sanktion in Kraft ungeachtet der Mitwirkung des Empfängers?
12. Müssen REVIS-EmpfängerInnen nach einem kompletten Leistungsentzug und ohne Möglichkeit auf eine Rückerstattung innerhalb der dreimonatigen Frist, wieder einen neuen Antrag stellen, um den REVIS-Betrag nach Ablauf der drei Monate wieder zu erhalten oder erfolgt die Auszahlung automatisch?
13. Verfügt das Familienministerium über quantitative und qualitative Erkenntnisse über die Auswirkungen der Sanktionen bezüglich der Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt?
14. Werden die von Sanktionen betroffenen REVIS-EmpfängerInnen weiterhin durch das ONIS begleitet und ermutigt einen neuen Antrag zu stellen?
15. Besteht in den Augen der Frau Ministerin nicht das Risiko, dass zu strenge Sanktionen die Sicherung eines Existenzminimums gefährden könnten?
16. Inwiefern ist die Frau Ministerin der Auffassung, dass das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts aufgrund der Ähnlichkeit, die das Arbeitslosengeld II bezüglich der Sanktionen zum REVIS aufweist, auch in der Abschätzung der Stärken und Schwächen der sozialen Eingliederungsinstrumente in Luxemburg eine Rolle spielen sollte?
17. Teilt die Frau Ministerin prinzipiell die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass harte Sanktionen bis hin zum Leistungsentzug unzumutbare und wenig zielführende Maßnahmen darstellen, die die soziale Eingliederung der EmpfängerInnen (des REVIS in diesem Fall) eher erschweren als erleichtern?
Hochachtungsvoll,
Marc BAUM
Abgeordneter
[1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html