Marc Baum – Erstaunliches passiert gerade in Luxemburg.
Es gibt einen in der Form und Breite selten zuvor dagewesenen Konsens der Zivilgesellschaft, die Verhandlungen der EU-Kommission über ein transatlantisches Freihandelsabkommen mit den USA (TAFTA oder TTIP) sofort zu beenden. Diese Forderung wird getragen von Gewerkschaften, Umwelt-, Sozialverbänden, Bauernvereinigungen, Dritt-Welt-Organisationen und Konsumentenschutz. Zu diesen Organisationen unterschiedlichster Ausrichtung stellen sich nun auch die ersten großen Gemeinden, die in dem Verhandlungsmandat der Kommission eine Gefahr für ihre Aufgabe der Daseinsfürsorge der Bevölkerung sehen. Eine Front also, die in dieser Stärke und Vielschichtigkeit nur mit der Anti-Cattenom-Bewegung der letzten Jahrzehnte verglichen werden kann.
Und in der Tat lesen sich die lange geheim gehaltenen Verhandlungsziele der EU-Kommission wie ein schauriges Manifest des Neoliberalismus mit zwei Hauptsäulen: einerseits eine weitere verbindliche Liberalisierung von öffentlichen Dienstleistungen und Ausschreibungen mitsamt einem übermäßigen Investorenschutz, der sich durch private Schiedsgerichte jeder demokratischen Kontrolle entzieht. Andererseits geht es um eine verstärkte Deregulierung (Newspeak: „Harmonisierung“) von existierenden Normen bzw. Sozial-, Umwelt- und Gesundheitsstandards.
Das eigentlich Erstaunliche ist aber, dass sich, anders als im Falle Cattenom, dieser gesellschaftliche Konsens weder im Parlament noch in der Regierung entsprechend widerspiegelt. Lediglich déi Lénk vertreten im Parlament konsequent die Position der TAFTA-Gegner: eine diesbezügliche Motion für den Stopp der Verhandlungen wurde aber von LSAP, Grünen, DP, CSV und ADR abgelehnt. Auf parlamentarische Anfragen des linken Abgeordneten Justin Turpel zwecks einer Stellungnahme von Regierungsmitgliedern zu den Kritiken der Zivilgesellschaft, antworteten diese, indem sie mit fadenscheinigen Argumenten alle Bedenken in den Wind schlugen und ein Hohelied auf die Wachstumspotenziale eines solchen Abkommens sangen…
Die Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Regierungspolitik, die hier entstanden ist, betrifft das Wesen der politischen Repräsentation und sie führt unweigerlich zu schizophrenem Handeln, unter dem die Grünen am meisten zu leiden scheinen. Es ist nämlich weder kohärent noch erklärbar, dass sie in der Regierung eindeutig Position für die Verhandlungen ergreifen – unterstützt durch ihre parlamentarische Fraktion -, aber im Europawahlkampf mit dem sofortigen Stopp der Verhandlungen geworben haben (und so ganz nebenbei damit zweitstärkste Partei wurden).
Der Widerspruch zwischen politischem Wollen (Wahlversprechen) und sogenanntem realpolitischem Handeln führte bei der LSAP zu einer Entfremdung von ihrer gewerkschaftlichen Basis, für die sie von Wahl zu Wahl abgestraft wurde. Die Grünen scheinen diesen Entfremdungsprozess gerade widerstandslos zu durchlaufen, aber halt so wie vieles in ihrer Geschichte: wesentlich schneller. Der Preis für die Partizipation an der Macht ist allerdings groß: die Aufgabe von inhaltlichen Positionen.
Marc Baum ist Gemeinderat in Esch.